Jacke Schwarz – Witaj
03. Februar 2023
Tomatenplatten
Album | Vinyl/Digital
36:39 Minuten | 11 Tracks
Blues Rock / Folk Rock
Berlin, Deutschland
Dobre Ranje, Berlin
Eine Anfrage nach „Jacke Schwarz“ in einer beliebigen Suchmaschine verweist vorrangig die Seiten der Big Players im Spätkapitalismus wie Zalando, Amazon oder andere boykottwürdige Unternehmen. Ob der Berliner Musiker Jacke Schwarz im SEO-Game gegen diese Riesen ankommen wird, mag unwahrscheinlich klingen, aber auch der israelische Junge David wurde unterschätzt, bis er bewies, wie gut er mit der Steinschleuder umzugehen wusste.
Vorliegende Langspielplatte ist das dritte Album von Jacke Schwarz. Nachdem er seine bisherigen Releases einfacherweise „I“ (VÖ: 29.08.2018) und „II“ (VÖ: 18.12.2019) nannte, heißt Album Nummer drei „Witaj“ (sorbisch: „Hallo“ / „Guten Tag“). Auf elf Liedern präsentiert Jacke Schwarz zusammen mit sechs Gastmusiker*innen eine Klanglandschaft, die sehr an einen Morgen in Berlin erinnert: etwas melancholisch, am Rande der Klarheit, und irgendwo zwischen den Welten gefangen.
Lausitz, Berlin, Benin
Das Album wurde zum großen Teil im Kuhstall im obersorbischen Njebjelčicy (Nebelschütz) in der Oberlausitz aufgenommen. Weitere Aufnahmen entstanden bei Jacke Schwarz zuhause sowie im Blitz und im Proberaum in Berlin. Die Diskrepanz zwischen urbanem Raum und ländlicher Weite spiegeln sich auch in Musik und Text wieder, was neben den Themen auch an der Wahl der Sprache erkennbar wirkt. Jacke Schwarz und seine Mitstreiter*innen singen vorrangig auf deutsch, in einem Lied gar nicht, und in den zwei Titel ‚Witaj‘ und ‚Čas słuša nam‘ (‚Die Zeit gehört uns‘) auch auf sorbisch.
Außerdem spielen Migration und kultureller Austausch eine wichtige Rolle auf dem Album. So behandelt Jacke Schwarz in ‚Fischer von Ouidah‘ die Träume, Hoffnungen und den täglichen Kampf von Menschen im globalen Süden am Beispiel der Situation in der Hafenstadt Ouidah im westafrikanischen Staat Benin.
Stadt, Land, Welt
„Witaj“ beginnt mit der von Gedanken und Trauer durchzogenen Folkballade ‚Schmerzen‘. Zwischen Klezmer, Herzschmerz und Melancholie groovet Jacke Schwarz die Zuhörer*innen in die Stimmung des Albums ein. Im nächsten Stück ‚Draußen um die Ecke‘ wird ein Schritt vor die Tür gewagt, wo der Protagonist vom Dealer im Stich gelassen wurde. Hat er einen besseren Job bekommen oder ist aus anderen Gründen nicht mehr da? Wir können nur mutmaßen, während der tanzbare Ton Steine Scherben-artige Blues Rock Song unsere Beine bewegt.
Mit dem Titeltrack kehrt die Melancholie zurück, aber auch Wärme macht sich in dem Folkstück breit. Musikalisch bleibt es im Liebeslied ‚Winde‘ ähnlich, welches dann in der antirassistischen Kampfansage ‚Angst vor Fremden‘ mündet. John Steam Jr. sang 2018 von einem Menschen, der sich aus Angst vor Fremden einmauert, und auch Jacke Schwarz greift dieses Thema auf. Mit wenig Mitleid singt der Berliner Künstler von Menschen, die auf interkulturellen Austausch mit Angst und Hass reagieren.
such dir ne Therapie oder sperr dich ein
zieh doch ’ne Mauer um deine Haus
und dann komm nie wieder raus
Dieses Lied kann zusammen mit ‚Das Boot ist voll‘ von Faber oder ‚Brick by Brick‘ von John Steam Jr. in einem Atemzug genannt werden. Musikalisch erinnert der Song ein wenig an frühe Werke von Element of Crime.
Raus hier, egal wo!
Der Walzer ‚Ich muss hier raus‘ ist eine sehr schöne Verneigung vor Rio Reiser und Ton Steine Scherben. Es bleibt bluesig im nächsten Stück, in dem die Träume und Gedanken der ‚Fischer von Ouidah‘ zwischen brennender Hitze und einer leidenschaftlichen Mundharmonika vertont werden. Doch auch in unserem von Kapitalismus und Zeitdruck zerfressenen globalen Norden ist nicht alles golden, wie das nächste Lied ‚Raus auf’s Land‘ zeigt. Hier sehnt sich ein Protagonist nach einem Ausweg aus den Tretmühlen des Neoliberalismus im urbanen Raum.
Fröhlicher klingt da der zweite sorbische Text ‚Čas słuša nam‘ (‚Die Zeit gehört uns‘). Der atmosphärische Folk Song klingt nach einer warmen Stube mit einladenden Sitzmöbeln, wo bei kulinarischen Darbietungen stundenlang Geschichten und Lieder ausgetauscht werden. Menschen, die sorbisch verstehen, sind eingeladen, diese Aussage zu korrigieren.
Der Traum ist nicht aus
Auf ein instrumentales Intermezzo, das vor Sehnsucht strotz, folgt der letzte Titel des Albums ‚Nirgendwo‘. Hier treffen auf schunkeligem Blues Rock noch einmal die Welten von Rio Reiser und Sven Regener aufeinander. Und so endet ein Album, das auch ein luzider Traum im morgendlichen Halbschlaf hätte sein können. Liebe und Sehnsucht, Schmerz und Hass, und der Drang in dieser merkwürdigen menschgemachten Welt zu überleben überschlagen sich in einer schön umgesetzten Sammlung aus emotionalen Liedern.
9/10 Pestogläser
Gesang: Jacke Schwarz, Henne Bürger, Wolfie Wolf, M.C. Čornak
Gitarre, Bass, Mundharmonika: Jacke Schwarz, Henne Bürger
Schlagzeug, Percussion: Henne Bürger
Lapsteel, Mandoline: Paul-Willy Stoyan
Orgel: Jacke Schwarz, Mika Amsterdam
Geige: Paul Geigerzähler
Texte: Jacke Schwarz, Sanna Rosenkranz, M.C. Čornak
Mix: Hässlon
Master: Dennis Kern / Studio Wong